Leseprobe
Copyright © 2015 Friederike Tautz   ·  E-Mail: friederike.tautz@wennploetzlich.de
Der Anruf
Dein Vater war derjenige, der mich am 10. Oktober 2012 gegen 9.30 Uhr auf meinem Arbeitsplatz anrief und mir die Mitteilung von Deinem Unfall machte.
Man hatte 2 Stunden gebraucht, um jemanden von uns zu erreichen, da Deine Heimatadresse nicht in Deinen Papieren zu finden war.

Es war der Horror. Etwas, dass man sonst nur im Fernsehen sieht oder im Radio hört.
Ich habe daraufhin sofort versucht, Ingo zu erreichen, der zu diesem Zeitpunkt in der Türkei im Urlaub war. Dann habe ich Luisa zu Hause angerufen, damit sie ihre Sachen packte. Sie hatte ja Herbstferien und wir hatten geplant, Dich zwei Tage später an Deinem neuen Wohnort zu besuchen und uns alles, Innsbruck, das MCI und noch viel mehr, von Dir zeigen zu lassen.
Dann kam alles anders.

Zuerst musste geklärt werden, wie wir schnellst möglichst nach Innsbruck kommen konnten.                                                                                          
Letztendlich blieb das Auto als Verkehrsmittel, da ein Flug nicht weniger lange gedauert hätte.
Papa wollte selber fahren, da er Samstags wieder zurück musste, denn er hatte ab Montags eine Urlaubsreise mit seiner Freundin gebucht.
Ich habe dann schnell alles gepackt, von dem ich glaubte, dass ich es für einen längeren Aufenthalt in Österreich benötigte. Luisa hat nur geweint und konnte die Geschehnisse gar nicht so schnell erfassen. Dann wurde der Schlüssel bei meiner Freundin Britta eingeworfen, die alles weitere mit der Wohnung und unseren Tieren regeln wollte. Oma und Opa habe ich durch  Freunde darüber benachrichtigen lassen, damit gleich jemand vor Ort gewesen wäre, falls einer von ihnen einen Schock erlitten hätte. Schließlich waren sie beide gesundheitlich angeschlagen.

Ich funktionierte.
Jeder hatte Sorgen, dass ich die Fahrt nicht schaffen würde, ich nicht.
Ich hätte nicht passiv daneben oder im Flugzeug sitzen können. Die Warterei, das Nichtstun hätte mich vermutlich durchdrehen lassen.
So würde ich abgelenkt sein und die kommenden Stunden, bis ich Dich sehen konnte, mich zusammen reißen müssen.
Dann ging es los. Ich bin immer nur hinter Papa hergefahren und habe nicht viel von dem Weg mitbekommen.
Luisa hat neben mir den Telefondienst übernommen und mit Ingo und auch dem Krankenhaus telefoniert. Gut, dass sie nicht so eine Telefonblockade hat wie Du, denn dann hätte ich die Gespräche wohl noch beim Fahren selbst führen müssen. Das wäre allerdings gar nicht gegangen, denn ich konnte zeitweise nur noch weinen und nicht mehr sprechen.

Viel Auskunft bekamen wir jedoch nicht, es waren kleine Puzzleteile.
Wir erfuhren, dass Du mit dem Rettungshubschrauber nach Innsbruck geflogen wurdest und ein Schädel-Hirn-Trauma hättest.
Das reichte jedoch, um noch mehr zu weinen.
Die Fahrt zog sich sehr dahin, es war Wochentag und viel Verkehr.
Zu allem Überfluss platzte mir dann noch mitten zwischen LKW’s auf einer dreispurigen Autobahn der Reifen. Zum  Glück hatte ich das unruhige Geräusch rechtzeitig wahrgenommen und bin direkt rechts rüber gefahren. Luisa hatte Papa vor uns über Handy benachrichtigt. Er fuhr ebenfalls sofort auf den Seitenstreifen, sicherte alles und begutachtete die Situation. Im Schneckentempo fuhren wir dann über den Seitenstreifen zur nächsten Raststätte, damit er dort den Reifen wechseln konnte, denn auf der Autobahn wäre dieses lebensgefährlich gewesen.
Die ganze Aktion mit dem Reifenwechsel hatte uns in der Zeit gute 2 Stunden zurückgeworfen und dann setzte in Süddeutschland auch noch Regen und die Dunkelheit ein. Wie Du weißt, nicht die optimalen Bedingungen für meine Sehfähigkeit. Ich sah wirklich nur noch Lichter, die auch meistenteils blendeten.
Die ganze Zeit hatte ich zu dem höllische Angst, zu spät nach Innsbruck zukommen, dass Du womöglich nicht mehr leben würdest.
Zwischendurch fanden immer wieder Telefonate mit Ingo statt, der uns Anweisungen gab, was zu berücksichtigen und in Innsbruck bzw. vorher schon über Telefon zu klären sei.
Um 23 Uhr waren wir dann abends auf der Intensivstation angekommen, mit kurzer Pause bei Renate, wo wir die Unterkunftsmöglichkeit erst noch klären mussten.
Renate war ebenfalls total fertig und konnte es nicht fassen.
Die Polizei hatte bei ihr nach meiner Adresse gefragt, da sie diese nach dem Unfall nicht herausfinden konnten und bekannt war, dass Du bei Renate arbeitetest.
Renate bot uns auch einen Imbiss an, aber ich hatte keine Ruhe für eine Pause und wollte nur noch, wirklich mit letzter Kraft nach der Fahrt, weiter, zu Dir.

Anke



Eigentlich selbstverständliche Sachen
Ich lerne durch den Unfall Sachen völlig neu schätzen, die früher (früher ist immer vor dem Unfall) selbstverständlich waren.
Da fällt mir als erstes Beispiel ein, völlig normale Schuhe zu tragen, die ich vorher hatte und die nun endlich wieder möglich sind. Das war lange Zeit anders, weil ich einen Spitzfuß hatte.
Und das Erste, was komplett aussortiert wurde, waren Jogginghosen. Die hatte ich monatelang ständig an, deswegen waren die schneller weg als sie sich in meinem Schrank in Schwartau wohlfühlen konnten, denn Therapie kann ich auch in optisch normalen Hosen machen oder halt in Leggins, was mein Schrank passend zum Wetter gerade hergibt und worin man sich halbwegs wohlfühlt. Nur richtige Jeans habe ich maximal am Wochenende an, 1. ist es zurzeit eh immer ein Kampf, eine solche anzuziehen (wegen neu aufgebauter Muskulatur, später dazu mehr) und 2. kann ich wirklich in allem Therapie machen, Rock, Kleid usw, nur Jeans sind absolut unpassend, wegen Beweglichkeit und so.
Die normalsten Dinge sind inzwischen ein Grund zur Freude geworden. Ich hatte viele Monate am Anfang meiner Krankenhausaufenthalte einen Keim (typischer Krankenhauskeim oder so!?), und der dafür gesorgt hat, dass ich isoliert wurde. Kaum war ich 2 Wochen in Schwartau, war er weg. Seitdem kann ich alles machen und überall hin, wo ich will.
Dementsprechend ist es jetzt echt toll, einfach in die Stadt zu gehen, die Liste für den Einkauf muss allerdings schon ziemlich lang sein, denn nur für eine Sache in die Stadt zu gehen, ist es mir echt nicht wert, dafür ist es dann doch zu anstrengend.
Dazu passt auch, dass ich das Wort "eben" völlig aus meinem Wortschatz verbannt habe. Denn ich mache eigentlich nichts mehr "mal eben". Das Bedarf alles einer genauen Planung und Organisation.
Aber inzwischen habe ich für fast alles eine Taktik entwickelt, wie es dann doch recht zügig geht.

Friederike